Sussanne Gusten
Die Presse
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Die IS-Extremisten standen vor der Eroberung der kurdischen Grenzstadt Kobane. Die Türken schauten zu. Warum?
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Zum ersten Mal hat die internationale Allianz gegen den Islamischen Staat (IS) die Extremisten nahe der nordsyrischen Stadt Kobane bei Tageslicht angegriffen. Kampfjets der US-geführten Verbündeten bombardierten intensiver als bisher die Stellungen des IS an der türkischen Grenze. Kurz zuvor hatten die kurdischen Verteidiger von Kobane nach dreiwöchiger Belagerung einen verzweifelten Hilferuf an das Ausland gerichtet: Wenn es in Kobane ein Massaker geben sollte, dann sei die internationale Gemeinschaft mit schuld, erklärte die kurdische Stadtregierung.
1. Warum ist die syrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei so wichtig für den IS?
Wenn der IS Kobane einnehmen sollte, würde
das den Jihadisten die Kontrolle über einen vierten Grenzübergang zur
Türkei bescheren und die Logistik für die Gruppe in Nordsyrien erheblich
erleichtern. Rund 2000 IS-Mitglieder rückten nach einer Meldung der
türkischen Nachrichtenagentur Anadolu in den Straßen von Kobane vor. Am
Vortag hatten die Extremisten in Außenbezirken der Stadt ihre schwarze
Fahne gehisst und drei Stadtteile erobert. Anschließend drangen
IS-Trupps bis ins Zentrum der Stadt vor. Von dort seien sie aber wieder
vertrieben worden, erklärte der syrische Kurdenchef, Salih Müslim. Bei
einem Hinterhalt der kurdischen Verteidiger sollen zahlreiche IS-Kämpfer
umgekommen sein.
Gegen die Umkreisung des IS haben die Kurden
in Kobane allein kaum eine Chance, sie verlangten deshalb eine
entschiedene Intervention des Auslands. Die Jihadisten rücken von Osten,
Westen und Süden an das Stadtzentrum heran. Nur im Norden Kobanes steht
der IS nicht – denn dort liegt das türkische Staatsgebiet. Die
türkischen Behörden haben den Grenzübergang bei Kobane jedoch
geschlossen und lassen nach kurdischen Angaben keine Hilfe für die
Verteidiger in der syrischen Stadt durch. Flüchtlinge aus Kobane werden
jedoch nach wie vor in der Türkei aufgenommen.
Offen blieb zunächst, wie viele Zivilisten
sich noch in Kobane aufhalten. Rund 180.000 Menschen sind in den
vergangenen drei Wochen von dort in die Türkei geflohen. In der Nacht
zum Dienstag kamen erneut Flüchtlinge über die Grenze. Die kurdische
Stadtregierung von Kobane erklärte jedoch, „Bevölkerung und Kämpfer“
würden dem IS nicht weichen und in der Stadt bleiben.
2. Wieso hat die Türkei zunächst nicht militärisch eingegriffen?
Der türkische Präsident, Recep Tayyip
Erdoğan, rechnet fest mit einer Eroberung Kobanes durch den IS. „Kobane
ist gefallen oder fällt in diesem Moment“, sagte Erdoğan am Dienstag in
Gaziantep im Grenzgebiet zu Syrien. Die türkische Armee steht mit
Panzern und Truppen an der Grenze bei Kobane, greift bisher aber nicht
ein. Salih Müslim, Chef der Demokratischen Unionspartei (PYD), die in
den Kurdengebieten Nordsyriens herrscht, kritisierte die Untätigkeit der
Türkei. Die Regierung in Ankara habe ihm Hilfe versprochen und halte
ihr Wort nicht, erklärte er. Syrische Kurden befürchten, dass der IS
nach einem Sieg in Kobane die beiden anderen Kurdenzonen in Nordsyrien
angreifen wird.
Müslim hat zuletzt Gespräche in Ankara
geführt und dabei Hilfe für Kobane verlangt. Laut Medienberichten
forderte die Türkei als Gegenleistung, die syrischen Kurden sollten auf
ihre in den vergangenen Jahren errichtete Selbstverwaltung verzichten,
sich zum Kampf gegen den syrischen Präsidenten, Bashar al-Assad,
bekennen und die kurdischen Kämpfer der Oppositionstruppe Freie Syrische
Armee (FSA) unterstellen. Bisher deutet nichts darauf hin, dass Müslim
diese Bedingungen akzeptieren will.
Die Türkei zögerte auch deshalb mit einer
Intervention in Kobane, weil Müslims PYD ein Ableger der
türkisch-kurdischen Rebellenorganisation PKK ist, die als Terrorgruppe
gilt. Und: Ankara fordert, dass die US-geführte Koalition in Syrien
nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen Assads Truppen vorgehen soll.
Dann sei die Türkei auch zur Entsendung von Bodentruppen ins
Nachbarland bereit, sagte Premier Ahmet Davutoğlu dem TV-Sender CNN.
3. Wie reagieren die Kurden auf Ankaras Haltung? Bläst die PKK den Friedensprozess ab?
Angesichts der Lage in Kobane wächst der
Druck auf Davutoğlu. Die türkische Kurdenpartei HDP verlangte eine
Intervention. In mehreren türkischen Städten gingen kurdische
Demonstranten auf die Straße. In Istanbul lieferten sich Kurden heftige
Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auch in Wien, Graz, Paris, London,
Bern, Stockholm, und Berlin protestierten Kurden. In Bregenz
beschädigten sie das türkische Generalkonsulat, in Innsbruck nahmen sie
die SPÖ-Parteizentrale in Beschlag. In Brüssel drangen Demonstranten ins
EU-Parlament ein, auch in Den Haag besetzten sie das Parlament.
Die PKK droht mit einem Ende des
Friedensprozesses, falls der IS Kobane einnimmt. Der inhaftierte
PKK-Chef, Abdullah Öcalan, der seit Ende 2012 mit Ankara über eine
friedliche Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei verhandelt, hat der
Regierung ein Ultimatum bis zum 15.Oktober gesetzt. Sollte die PKK die
Verhandlungen aufkündigen, könnten die seit anderthalb Jahren
eingestellten Gefechte zwischen kurdischen Rebellen und der türkischen
Armee erneut beginnen.
4. Warum konnten Luftangriffe den IS im Nordirak zurückdrängen, nicht aber in Kobane?
Eine Eskalation der Luftangriffe ist aus
Sicht der Kurden in Kobane längst überfällig. Nach US-Militärangaben
flogen die Anti-IS-Verbündeten vor Dienstag insgesamt ein Dutzend
Angriffe auf Stellungen der Extremisten bei Kobane. Angesichts der
wochenlangen Belagerung ist diese Zahl relativ gering. Beim Kampf um den
Mossul-Damm im Nordirak vor einigen Wochen wurden fast zehnmal so viele
Angriffe geflogen. Damals gelang es, den IS zurückzudrängen.
(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 08.10.2014)


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