Navarinoinvestment's kommentar:
Genau...
Capital:
Herr Münkler, viele Banker und Volkswirte sagen, ein Grexit sei heute
ökonomisch verkraftbar. Ist er auch politisch verkraftbar?
Münkler: Wenn Griechenland nur aus dem Euro
ausscheidet, bedeutet das politisch nicht sehr viel. Das ist ein rein
ökonomisches Problem. Es gibt zwar das Argument, dass dann die Eurozone
in ihrer Endgültigkeit und Unversehrbarkeit infrage gestellt wird. Dem
kann man aber entgegenhalten, dass auch deutlich würde: Man kann in der
Eurozone nicht machen, was man will.
Ein Grexit hätte also gar keine politische Bedeutung?
Die politische Dimension kommt eher daher, dass nach einem
Grexit die Frage gestellt wird: Was passiert jetzt mit Griechenland?
Wird es eher ein Land der Dritten Welt sein? Oder ein Land, das eine engere Anbindung an Russland sucht?
Das ist ein geopolitisches Problem. Die griechische Regierung hat damit
natürlich auch schon gespielt und gedroht: Wenn Ihr uns nicht weiter
alimentiert, dann werden wir eine politische Karte spielen, die auf so
etwas wie einen Bündniswechsel hinausläuft.
Ist das eine ernstzunehmende Drohung?
Ob die Griechen dazu wirklich in der Lage und bereit
sind, ist schon sehr die Frage. Sie bekommen ja auch unabhängig von der
Währung eine Alimentation durch die Europäische Union. Diese würden sie
eintauschen gegen eine sehr unsichere Alimentation durch die Russen, die
vermutlich mit der Finanzierung des Donbass und der Krim schon genügend
Probleme haben. In so einem Fall würden allerdings auch die Europäer
Stress mit den USA bekommen, weil die USA an dieser Stelle die alte
Sowjetunion eingemauert hatten. Man hat die Sowjetunion in Griechenland
geostrategisch vom Wasser des Mittelmeers ferngehalten und sich deshalb
auch nicht besonders darüber echauffiert, als dort eine Militärdiktatur
herrschte. Gleiches gilt für die Türkei. Da dominierte der
geostrategische Aspekt, und den gibt es aus amerikanischer Perspektive
nach wie vor.
Auch wenn Griechenland sich Russland annähert, wäre es immer noch Nato-Mitglied.
Wir beobachten heute, dass es im Verbund der EU einige
Akteure gibt, die eine gewisse Nähe zu Russland und zu Putin suchen. Die
Ungarn etwa gehören auch dazu. Wenn diese Akteure sich Russland
annähern, dann werden sie sehr viel stärker nicht-EU-konforme Interessen
ins Spiel bringen. Und das ist für uns sicherheitspolitisch unangenehm.
Dann stellt sich die Frage: Kaufen wir uns dort wieder ein, indem wir
mehr Geld geben als die Russen? Oder sagen wir: Dann seid ihr uns egal,
wir sparen ja auch viel Geld damit? In jedem Fall haben wir einen
Krisenherd, der immer näher ans europäische Zentrum heranrückt, also
nicht mehr auf Syrien oder Nordirak oder die Ostukraine beschränkt ist.
Dieser neue Krisenherd würde weit nach Mitteleuropa hineinreichen.
"Neoliberal ist heute das böse Wort"
Passen solche geostrategischen Überlegungen überhaupt in die Europäische Union? Die EU versteht sich doch bisher vor allem als eine Wirtschafts- und Wertegemeinschaft.
Vermutlich muss man da doch einmal unterscheiden zwischen
dem, was die öffentliche Diskussion ist, und dem, was die tatsächlichen
Überlegungen sind. Solange man gesagt hat, alle sicherheitspolitischen
und geostrategischen Fragen bleiben bei der Nato, und die EU hat so
etwas nicht auf der Agenda, konnte man sich auch leisten zu sagen, wir
sind ein gemeinsamer Markt und darüberhinaus keine
Sicherheitsgemeinschaft usw. Aber in dem Moment, wo die Nato ihren
Charakter verändert, weil die USA weniger in Europas Sicherheit
investieren - Stichwort Obama-Doktrin, pazifischer statt atlantischer
Raum - in dem Moment wandern zunehmend sicherheitspolitische Aufgaben
hinüber zur EU.
Welche
Spannbreite von politischen Leitbildern verträgt denn das europäische
Projekt? Passt da vom Nationalismus bis zum Neokommunismus wirklich noch
alles hinein?
Ich glaube schon, dass es Grenzen gibt. Die erste dieser
Grenzen heißt: Die Europäische Union ist im Hinblick auf ihre
ökonomischen Ursprünge eine Union, die Protektionismus verhindert.
Gewisse dirigistische Wirtschaftssteuerungsprojekte funktionieren aber
nur unter protektionistischen Bedingungen. Insofern gibt es Grenzen
dessen, was innerhalb der EU möglich ist. Das ist in den europäischen
Verträgen auch so geregelt. Das Problem ist jedoch: Findet sich einer,
der die Kosten und Mühen und Lasten auf sich nimmt, den Verträgen auch
Geltung zu verschaffen.
Also stimmt es, wenn die Kritiker links- und rechts-außen sagen, die EU sei ein "neoliberales Projekt"?
Für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische
Vorstellungen, aber auch identitätspolitische Vorstellungen - da habe
ich Ungarn im Auge - ist dieser EU-Raum in der Tat ungeeignet. Denn die
Verpflichtungen, die dazugehören, machen solche Projekte unmöglich.
"Neoliberal" ist dann natürlich ein Denunziationsbegriff, mit dem das
belegt wird. Das ist gewissermaßen heute das "böse Wort" für europäische
Integration und Prozesssteuerung auf europäischer Ebene.
Es hat sich
in der Euro-Krise gezeigt, dass Deutschland eine neue Führungsrolle
zuwächst. Hat die Bundesregierung schon genug getan, um diese Rolle
auszufüllen?
Das Spannende ist, dass „hinterrücks“ etwas ganz Anderes
herausgekommen ist als eigentlich geplant war. Eigentlich haben alle
gesagt: Brüssel, Brüssel, Brüssel! Wir geben die Kompetenzen nach
Brüssel, die EU-Kommission macht das, und die intergouvernementalen
Absprachen der Regierungen verlieren an Bedeutung. Jetzt stellen wir
fest: Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die gegenseitigen Ressentiments
in Europa sind gewachsen. Und der Bundesrepublik ist eine
Orientierungs- und Führungsfunktion zugewachsen, die die Deutschen gar
nicht gewollt haben. Wir dachten: Na gut, also wenn überhaupt, dann
machen wir ein "Leading from Behind", also Führung aus der zweiten,
besser noch aus der dritten Reihe. Das alles hat sich im Augenblick ins
Gegenteil verkehrt.
Warum ist das so?
Es hat mit dem Wachstum zentrifugaler Kräfte in Europa zu
tun, mit der Heterogenität Europas, die offenbar von EU-Kommission und
Europaparlament nicht hinreichend bearbeitet werden kann. Dazu bedarf es
eines starken Akteurs, der beides kann: Zahlen und Durchsetzen. Diese
Kombination von Zahlmeister und Zuchtmeister ist etwas, das erforderlich
geworden ist, was die europäische Ebene aber erkennbar nicht
hinbekommt. Also ist es bei der „Macht in der Mitte“ gelandet.
Ist das also die künftige Rolle Deutschlands?
Als der wirtschaftlich stärkste Akteur, der beim
Zusammenhalten Europas die größten Vorteile und die höchsten Kosten hat,
ist Deutschland in diese Rolle hineingeraten. Nun muss man dabei klug
sein. Wir haben unsere Geschichte, und die wollen wir nicht vergessen.
Es ist dies – jedenfalls für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts –
eine für Europa sehr unerfreuliche Geschichte. Wir sind dadurch
verwundbar, vergessen wir nicht die Karikaturen von Frau Merkel mit
Hitlerbärtchen, Hakenkreuz-Armbinde oder Pickelhaube auf dem Kopf.
Die Frage: Tun wir genug oder nicht genug? ist immer zu
kombinieren mit der Frage: Ist das möglich? Oder geht das über die
Grenze dessen hinaus, was uns möglich ist.
Noch einmal nachgefragt: Tun wir genug?
Nein. Um bei Ungarn zu bleiben: Da tun wir gar nichts, um
die zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit zu zwingen. Aber die Frage
ist: Können wir mehr tun, ohne stärker zu schaden als zu nutzen. Es gibt
eine systemische Anforderung und es gibt das Mögliche - und beides ist
nicht kongruent. Deswegen ist Europa heute auch in vieler Hinsicht in
der Krise. Wäre es kongruent, dann könnte man sagen: Okay, Merkel sollte
sich jetzt mal ein bisschen energischer einsetzen für bestimmte Fragen.
Sie kann das ja durchaus, auch vom Typ her. Sie ist keineswegs nur
eine, die immer nur zuwartet.
Andere Krisenländer drängen auf Fiskaldisziplin
Im Fall Griechenland geht es letztlich "nur" um Geld. Mit diesem Instrument hat die Bundesrepublik eigentlich schon immer Einfluss genommen.
Wie sagt Mao Tsetung? Bestrafe einen, erziehe Hundert. Wenn
man mit Griechenland ganz gelassen umgeht und sagt: Wir wollen euch
nicht wehtun, dann schauen andere natürlich auch darauf. Deswegen hat
sich die Diskussion so eigenartig verschoben. Die Franzosen wollen gar
nicht so sehr, dass man den Griechen auf die Finger haut, denn so lange
die Griechen beim Euro dabei sind, fallen sie selber mit ihrer
Fiskalpolitik nicht auf. Es sind jetzt die Länder, die selbst große
Anstrengungen unternommen haben, um ihre Haushalte in Ordnung zu
bringen, die darauf drängen, dass gegenüber Griechenland eine härtere
Linie gefahren wird. Das ist eigentlich für die Bundesrepublik ganz
schön, weil man aus der ersten Linie des Feuers herausgekommen ist.
Natürlich ist klar, dass es das griechische Interesse ist, das Feuer vor
allem auf die Deutschen zu richten: Wegen der historischen
Verwundbarkeit, und weil es letzten Endes die Deutschen sind, die zahlen
würden.
Seit den
britischen Wahlen macht noch ein weiteres Risiko für Europa
Schlagzeilen: Der Brexit. Ist das wirklich eine ernsthafte Gefahr?
Es wäre jedenfalls eine sträfliche Nachlässigkeit, diese
Möglichkeit nicht zu denken. Wenn die Briten aus der EU austreten, dann
werden die Schotten versuchen, aus Großbritannien auszutreten. Für die Briten ist das also nicht nur eine Geschichte der politischen Optimierung ihrer Situation in Europa,
sondern es ist eine riskante Politik, die Großbritannien in Frage
stellt. Das gilt letzten Endes auch ökonomisch: Wenn Großbritannien
austreten würde, könnte London seine Rolle als starker Finanzplatz wohl
nicht erhalten. Frankfurt würde sich dann die Hände reiben. Jedenfalls
die Frankfurter Grundbesitzer, die Londoner Immobilienpreise erzielen
wollen.
Was würde ein Brexit für die Rolle Deutschlands in Europa bedeuten?
Erst einmal ist Großbritannien Nettozahler. Ein Austritt
bedeutet also für uns in Deutschland, dass wir noch ein bisschen höhere
Anteile haben. Zum anderen ist Großbritannien für das politische Agieren
wichtig, weil es von der ökonomischen Auffassung her weniger
staatsorientiert ist. Die Gegenposition nimmt politisch Frankreich ein.
Es ist politisch vorteilhaft für die Bundesrepublik, wenn sie da eine
Mitte halten kann. Wenn der im weiteren Sinn wirtschaftsliberale
Flügelmann Großbritannien weg ist, dann wird es sehr viel schwieriger,
gegen dirigistische Positionen gegenzuhalten. Man gerät aus einer
politischen Mittellage in eine Randposition. Das ist unkomfortabel.
Früher
hieß es immer, die europäische Integration werde gerade durch ihre
Krisen vorangetrieben. Von Krise zu Krise wachse Europa letztlich immer
enger zusammen. Gilt diese Theorie eigentlich auch heute, angesichts von
Grexit- und Brexit-Debatten, immer noch?
Das ist ja eigentlich keine Theorie gewesen, sondern ein
Beobachtung, die freilich auf entgegenkommenden Rahmenbedingungen beruht
hat: dass es nämlich einen Zwang zur Einigung gab, dass es nur eine
sehr begrenzte sozioökonomische Heterogenität und nur sehr begrenzte
politisch-kulturelle Zentrifugalkräfte gab. In der gegenwärtigen
Situation ist es nicht mehr ausgemacht, dass eine Krise zu einer
Stärkung des institutionellen Designs der EU führen wird. Krisen können
auch die Bruchstellen so offenlegen, dass es dann wirklich zu Brüchen
kommt. Insofern bin ich alles andere als ein Krisenoptimist. Es gibt
diese wunderbare Hölderlin-Formulierung: „Wo die Gefahr am größten ist,
da wächst das Rettende auch.“ Aber das ist keine Magie, die man immer
auf die europäische Einigung anwenden kann. Da kann es auch richtig
krachen.
Quelle:
capital.de
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